Seelenanker
Oder: Was bin ich NOCH? - Was bin ich EIGENTLICH?

"Wir haben eine Ess-Störung, aber wir sind keine!"

Dieser Satz sprang mich an als ich zum ersten Mal die Website der Ausstellung Klang meines Körpers aufrief. Als eine liebe Freundin mir vor einiger Zeit von diesem Projekt erzählte, war mein erster innerer Impuls: völlige Ablehnung – Mir stellten sich die Nackenhaare auf, ich merkte wie innerlich eine ganze Armee Stellung bezog.

„Ausstellung“? Über Essstörungen? Das ist ja mal wieder GENAU der richtige Ansatz! Schön distanziert, damit die Menschen ja nicht auf die Idee kommen, es könnte etwas mit ihnen selbst zu tun haben, als wäre es irgendetwas total exotisches, abnormales, total psycho halt! Soll ich mich vielleicht gleich in einen Schaukasten setzen? Dann wäre ich wenigstens „ausgestellt“ wie in einem Museum!

Ich habe der Sache trotzdem eine Chance gegeben – oder gerade deswegen? In der Hoffnung auf eine weitere Gelegenheit etwas klar zu stellen, eine weitere Gelegenheit Stigmatisierung, Vorurteile abzubauen, um erneut aufzustehen für alle Betroffene da draußen? Vielleicht…
Fakt ist, das Konzept ist richtig richtig toll, hat mich vom ersten Augenblick begeistert und der Name … ist wohl einfach ein Problem der deutschen Sprache – oder ein Problem meiner eigenen Interpretation… Mit einer klassischen „Ausstellung“ hat das Projekt auf jeden Fall reichlich wenig zu tun. Das Konzept ist vielmehr eine Einladung, eine Einladung von 6 ehemals Betroffenen in ihr Innerstes, in ihre Seelenwelt, in ihre Gedanken und Gefühle. Es ist eine Einladung über kreative Elemente, Bilder, kleine Schatzkisten, Musik. Nimmst Du diese Einladung an, lässt Du Dich richtig darauf ein, spürst und fühlst – so geht die Nachricht direkt ins Herz.

Es muss von Herzen kommen, was auf Herzen wirken soll.

— Johann Wolfgang von Goethe

Vielleicht schwingt meine Seele genau deshalb so auf einer Ebene mit diesem Projekt – die 5 Mädels und der Junge öffneten ihre Herzen, um ihre Nachricht hörbar zu machen, um sie direkt in das Herz anderer Menschen zu geben, sie ihren Seelen einzuflüstern – genau wie ich wieder und wieder hier stehe mit offenem Herzen – für Dich, für andere Betroffene, für alle Menschen da draußen… und nicht zuletzt auch für mich, nicht zuletzt auch, um mich und die Botschaft meiner Seele hörbar zu machen…

"Wir haben eine Ess-Störung, aber wir sind keine!"

Dieser Satz hat in mir etwas bewegt, hat in meinem Innersten, meiner Seele etwas angestoßen, hat mich berührt und zum Nachdenken gebracht. Ja, mehr noch! Meine Seele hat einen riesigen schwarzen Edding herausgeholt, hat die Buchstaben des letzten Halbsatzes inbrünstig unterstrichen, immer und immer wieder, plötzlich waren da Gefühle – Wut, Hass, Aggression, aber auch Trauer…
Trauer darüber, dass ich diese Worte nicht hatte in meiner schlimmsten Zeit. Trauer darüber, dass meine Seele zu schwach war, sich zu wehren; darüber, dass diese Worte den Weg über meine Lippen nicht fanden, dass sie sich stattdessen in meinem Bauch zu einem riesigen Batzen hässlicher Gefühle zusammenklumpten, dass sie meinen Misthaufen noch weiter vergrößerten…

Und mit einem Schlag wurde mir klar – diese Sprachlosigkeit ist Vergangenheit!
In dem Moment, in dem ich für mich aufgestanden bin, in dem Moment, in dem ich für mich losgegangen, meine Reise zu mir selbst begonnen habe, in dem Moment habe ich die Maske fallenlassen, in dem Moment habe ich mich neben diese Betroffenen gestellt, habe mich neben sie gestellt in der Bereitschaft zu kämpfen – oder vielmehr in der Bereitschaft den Kampf zu beenden, in der Bereitschaft Frieden zu schließen, Frieden zu schließen mit mir, mit der Krankheit, mit dem Leben, in der Bereitschaft der Welt die Hand zu reichen…

Wir sind alles Menschen.

Doch in dieses Hochgefühl mischte sich sofort noch etwas anderes. Fast unbemerkt meldete sich noch ein anderes zartes Stimmchen in meinem Herzen; meldete sich ganz sanft und vorsichtig, wie ein kleines Kind, das befürchtet etwas Falsches, Unanständiges zu sagen.

Duuuuuuu… Duu… Anna… aber, aber WAS bist Du denn NOCH?

Plumps, da saß ich wieder auf dem Boden der Tatsachen, unsanft zurückgeholt aus dem Hochgefühl, zurückgeholt aus dem Gefühl des Aufbruchs, zur erneuten Auseinandersetzung mit mir selbst gezwungen.
Noch bevor ich mir Gedanken um den Versuch einer Antwort machen konnte, blieb meine Seele an einer Kleinigkeit hängen, einer Kleinigkeit, die man vielleicht als Wortklauberei bezeichnen könntest, einer Kleinigkeit, die für mich aber von großer Bedeutung ist: Muss die Frage denn nicht eigentlich ganz anders lauten? Statt „Was bin ich NOCH?“, „Was bin ICH noch?“ – oder vielmehr „Was bin ICH eigentlich?“ – Nein, „Was bin ich EIGENTLICH?“! – oder auch ganz un-eigentlich!

WAS BIN ICH?

Ich, meine Seele, mein Herz und auch mein Verstand haben nämlich absolut und definitiv keine Lust sich über irgendwelche Krankheiten oder Diagnosen zu definieren! ICH BIN ICH, Anna ist einfach Anna…

Doch – damit schließt sich der Kreis, ich bin wieder am Grundproblem: An der Frage, WER BIN ICH eigentlich? Obwohl – eigentlich ist das ja gar kein Problem – oder höchstens ein Problem-Geschenk 🙂
Schließlich ist diese Frage meine Motivation, mein Antrieb, mein Motor, sie ist der Grund, der tiefe Sinn meiner Reise zu mir selbst. Wüsste ich schon alles über mich, hätte ich mich damit abgefunden, dass mein bisheriges Leben, die Summe meiner bisherigen Erlebnisse, Erfahrungen, Einstellungen, dass NUR das ICH bin, dass da nicht MEHR ist, dass da nichts mehr Neues kommen kann, dass ich nicht mehr VERDIENE, einfach nicht mehr sein KANN – dann könnte ich mir den ganzen anstrengenden, unglaublich kräftezehrenden Weg, all die inneren Konflikte, all die Auseinandersetzungen mit mir selbst, mit meinen Gedanken, Gefühlen, Glaubenssätzen, all die hier geschriebenen Worte sparen. Dann könnte ich wieder zurückgehen in meine gemütliche Komfortzone, könnte wieder zurückgehen in das wohlig warme Gefühl des Bekannten, in die Welt des „Es-könnte-ja-auch-noch-viel-Schlimmer-Sein“-Denkens, in die Welt des gepflegten Leidens, könnte zurückgehen in die gewohnte Opferrolle, könnte wieder anfangen mich fälschlicherweise am Kopf zu kratzen

Ja, das wäre einfach… – nur – bin das dummerweise wohl auch nicht ICH…
Oder vielmehr glücklicherweise!
Glücklicherweise was meine Aussichten für die Zukunft angeht, meinen Traum von einem Leben in Liebe und Glück. Glücklicherweise ist irgendein Teil in mir, ist irgendetwas tief in meiner Seele ganz fest davon überzeugt, dass das Leben, MEIN Leben noch so viel mehr für mich bereit hält; dass ICH, Anna, noch so viel mehr bin, noch so viel mehr sein kann; dass da noch etwas ist, das ich nicht kenne, das vielleicht noch überdeckt ist von negativen Erfahrungen, Erinnerungen, Glaubenssätzen; dass da noch etwas ist, das ich mir mein bisheriges Leben vielleicht einfach nicht erlaubt habe zu sein…

Kein Mensch ist austauschbar. Jeder besteht aus lauter wunderschönen kleinen Details.

— aus ‚Before Sunset‘

Ich bin ein Menschen mit vielen verschiedenen Facetten, vielen verschiedenen Talenten, Fähigkeiten, Interessen – so wie Du, so wie jeder Einzelne von uns. Jeder Einzelne von uns ist wie ein wunderschönes Puzzle, ist eine vollkommene Einheit aus vielen kleinen Teilen, lauter kleine Teile, die sich perfekt und einzigartig ineinander fügen.

Einzigartig wunderbar und wunderbar einzigartig.

Und – tatsächlich! Einige meiner Facetten kenne ich dann doch, einige meiner ECHTEN Facetten, nicht nur solche, die lediglich Hilfeschreie meiner Seele sind. Und ja, darunter auch einige Schöne, einige, die ich mag, einige, die mich gerne ausmachen dürfen. Eines dieser kleinen Details meiner Persönlichkeit, ein Detail von Anna, möchte ich heute gerne mit Dir teilen. Ein Detail, das mich bereits mein ganzes Leben begleitet, etwas, das mein Sein immer bereichert hat, das mir immer Halt gegeben hat, einfach immer da war – da war als verlässlicher Anker meiner Seele:
Meine Begeisterung für die Wissenschaft, mein unstillbarer Wissensdurst, mein unbändiges Interesse an neuen Erkenntnissen.

Was ist DEIN Seelenanker? Was ist für Dich ganz persönlich eine Eigenschaft, ein Interesse, eine Fähigkeit, die Dich immer begleitet, die Dich ausmacht, die einfach DA ist, egal welches Chaos gerade um Dich oder in Dir gerade herrscht? Musst Du darüber länger nachdenken oder erscheint sofort ein Bild vor Deinem inneren Auge? Vielleicht hast Du ja Lust, Deinen eigenen Seelenanker zu visualisieren? Vielleicht in Form einer kleinen Collage? In Form eines hübschen Bildchens oder einer Graphik, so wie ich es für diesen Beitrag gemacht habe? Vielleicht kann Dir das Bild helfen, Dich in schlechten Zeiten zu erinnern; zu erinnern, dass auch Du aus diesen wunderbaren kleinen Details bestehst, dass auch Du eine Summe aus vielen Einzelteilen bist; Dich zu erinnern, dass einige schöne Teile immer bleiben – egal was passiert…

MEINEM Seelenanker möchte ich hier auf diesem Blog immer mal wieder etwas Raum geben, ihm Raum geben sich zu entfalten, ihm Raum geben, um ihn anzuerkennen und wertzuschätzen, ihn wertzuschätzen als wichtigen Teil meiner Seele, meines Ichs.
Deshalb findest Du unter dem Stichwort Seelenanker in Zukunft immer mal wieder kürzere oder längere Beiträge zu unterschiedlichsten Themen. Einfach quer Beet durch alle Disziplinen – Interessantes, Kurioses, Spannendes, Neues, nützliches und unnützes Wissen, über das ich im Alltag immer mal so stolpere.
Den Anfang macht heute eine kleine Statistik, eine Statistik über die häufigsten Ängste des Menschen, die auf eindrückliche Weise zeigt, wie verquer menschliche Gefühle manchmal sind! Denn eigentlich sollte man meinen, Krankheit und Tod sind das Schlimmste, was uns passieren kann, oder?

statistik-wovor-sich-menschen-fuerchten

Eine, wie ich finde, unglaublich erheiternde, aber absolut wahre Interpretation dieser Daten lautet:

„Glaubt man der Statistik über die häufigsten Ängste des Menschen, ist auf einer Beerdigung nicht derjenige die ärmste Sau, der im Sarg liegt – sondern vielmehr die Person, die die Grabrede halten muss!“

Stets findet Überraschung statt. Da wo man’s nicht erwartet hat!

— Wilhelm Busch

Links in diesem Beitrag:
Zu den Blogbeiträgen: Der Mist des Lebens, Das Geschenk der Essstörung, Warum willst Du krank sein?
Zu meiner Beschreibung der Ausstellung Klang meines Körpers; Direkt zur Website der Ausstellung

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Comments

  • Ivo

    22. Juli 2017 at 12:54
    Reply

    Ich dachte erst mein Seelenanker ist ganz klar: Neugierde! Dann dachte ich: Ne Ideen!, dann: Hinterfragen!, dann wie immer in meinem Kopf alles durcheinander. Bisher […] Read MoreIch dachte erst mein Seelenanker ist ganz klar: Neugierde! Dann dachte ich: Ne Ideen!, dann: Hinterfragen!, dann wie immer in meinem Kopf alles durcheinander. Bisher habe ich noch keinen richtigen Begriff dafür gefunden, aber ich glaube das alles zusammen ist mein Anker. Und das ist ein gutes Gefühl. Ich habe gestern mit einem Freund gesprochen und dabei sind wir darauf gekommen, dass ich früher noch die Attribute "Sprunghaft", "Unstet", "Weiß nicht was er will" bekommen hätte, heute nennt sich das Innovativ! ;) Über deine Statistik und vor allem die Interpretation der Statistik musste ich herzlich lachen, denn es zeigt so toll, wie wir Menschen ticken. Wir sind alles andere, aber nicht rational! Das ist eine absolut geniale Darstellung dessen! LG Ivo Read Less

    • Anna
      to Ivo

      23. Juli 2017 at 10:49
      Reply

      Lieber Ivo,mir fällt zu Deiner Beschreibung ein: kreativ chaotische Wissbegierde - während es bei mir wohl eher etwas geordneter zugeht, wobei ich mir da gerade […] Read MoreLieber Ivo,mir fällt zu Deiner Beschreibung ein: kreativ chaotische Wissbegierde - während es bei mir wohl eher etwas geordneter zugeht, wobei ich mir da gerade auch nicht mehr so sicher bin :-D Dein Freund und Du habt auf jeden Fall Recht: solche innovativen Menschen wie Dich braucht das Land! Querdenker, positive Querulanten, System-Aufbrecher, Auf-Probleme-Hinweiser, Das-haben-wir-immer-schon-gemacht-Hasser, Normen-Verweigerer :-D Und - auch da hast Du die Wahrheit voll getroffen, der Mensch ist alles, nur nicht rational! Auch wenn er sich das immer einbildet ;-)Danke für den tollen Input!Deine Anna Read Less

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