Die Leere füllen
Teil 2: Der Aktionsplan

Da war also plötzlich diese Leere, diese Lücke, die die Essstörung hinterlassen hatte.
Und da war diese Erkenntnis.
Diese Erkenntnis, dass meine bisherigen Freizeitaktivitäten nicht wirklich MEINE waren, mich in meinem tiefsten Herzen nicht wirklich mit Freude erfüllten, nicht wirklich dazu beitrugen, mein Leben lebenswerter zu machen.
(Wie ich zu dieser Erkenntnis kam, kannst Du in Teil 1 nachlesen.)

Die erste Reaktion, der erste Impuls auf diese Erkenntnis? – Selbstabwertung…

"Toll, Du bist nicht einmal in der Lage Deine freie Zeit sinnvoll zu nutzen! WAS kannst Du überhaupt? Wenn Dir nichts einfällt, was Spaß macht, hast Du auch keinen Spaß verdient! Am besten legst Du Dich einfach ins Bett. Geh am besten einfach schlafen! Ach ne, stimmt ja, das mit dem Schlafen bekommst Du ja seit einiger Zeit auch nicht mehr auf die Reihe! Die einfachsten Dinge wie Essen und Schlafen nicht gebacken kriegen, aber Spaß und Freude im Leben haben wollen!?"

JA!
Ja, ja, ja! Spaß und Freude im Leben haben! GENAU DAS hatte ich vor!

Und ich hatte NICHT vor, weiter auf diese destruktive Stimme in meinem Kopf zu hören!
Ich hatte mich entschieden, meine Einstellung zu ändern, hatte mich entschieden, mein Gehirn umzuprogrammieren, nicht mehr ständig in die altbekannten destruktiven Gedankenschleifen zu verfallen. Ich hatte mich entschieden diesem "Mindfuck" in meinem Kopf einfach nicht mehr zuzuhören.

Also, Perspektivwechsel:
Meine Liste an für mich spaßigen und entspannenden Aktivitäten war leer?
Super! Das gab mir die absolute Freiheit sie mit Allem zu füllen, was mir irgendwie in den Sinn kam. Es gab mir die Freiheit, alles Mögliche und scheinbar Unmögliche auszuprobieren, mich einfach durchzutesten, mich einfach einmal treiben zu lassen.

„Das Gute“ gibt es nicht – es geht darum, was gut für Dich ist.

— Frédéric Lenoir

Mit diesem Gedanken im Kopf, mit diesem klaren Ziel vor Augen startete ich eine Aktion.

Aktion: Leere Zeit mit Freude füllen

Dummerweise übernahm an dieser Stelle ein anderer, ebenfalls nicht immer hilfreicher Teil meiner Persönlichkeit das Zepter – Leistungsbewusstsein…

"Wenn Du aber Deine Zeit investierst, wenn Du Dich auf die Suche machst nach neuen Aktivitäten, dann muss es wenigstens irgendetwas sein, das Dich weiterbringt! Irgendetwas Sinnvolles, vielleicht etwas produzieren, das Du dann verkaufen, oder zumindest verschenken kannst! Schau also, dass es etwas ist, das Du auch kannst, sonst wird das Ergebnis katastrophal! Oder Du tust irgendetwas, das Deiner Gesundheit dienlich ist, das Dich weiterbildet, Deine Fähigkeiten erweitert!"

Puuuhhh, es war schon echt schwer, diese lange eingeübten Gedanken, diese inneren Stimmen, dieses Destruktive abzustellen, es zum Schweigen zu bringen…
Aber gut, sollte es labern, hier bestimmte ICH die Spielregeln!

Die Aktion bekam zwei Regeln:

  • Regel Nr. 1: Ich probiere unvoreingenommen Alles aus, was sich irgendwie nach Spaß anhört;
  • Regel Nr. 2: Der Perfektionismus muss zuhause bleiben!
    Sprich es war explizit erlaubt, nein, quasi verpflichtend, jede Tätigkeit SOFORT wieder aufzuhören, sobald ich die Lust verlor.

Es ging mir nicht darum, zwanghaft ein neues Hobby für’s Leben zu finden.
Es ging einzig und allein darum, eine schöne Zeit zu haben, darum die leere Zeit mit Spaß zu füllen, die leere Zeit zu Qualitätszeit zu machen. Wenn eine Aktivität also lediglich dazu taugte, zwei Stunden meines Lebens mit Freude zu füllen, war sie perfekt! Auch wenn ich sie danach eventuell nie wieder machen wollte…

Ich begann mit Brainstorming, begann mir mögliche Aktivitäten zu überlegen, begann mir Fragen zu stellen wie
"Was habe ich als Kind gerne gemacht?
Woran hatte ich früher schon einmal Spaß?
Was wollte ich schon immer gerne einmal ausprobieren?
Wovon habe ich vielleicht schon einmal irgendwo gelesen?
Was haben Freunde von Freunden schon einmal gemacht? …"

"Naja, so etwas wie Malen oder Handarbeiten fällt ja schon einmal raus. Schließlich war Kreativität ja noch nie meine Stärke…"

Äh – Stop!

  • Regel Nr. 3: Alte Glaubenssätze werden rigoros über Bord geworfen! Kritische Stimmen in meinem Kopf werden rigoros ignoriert! Grundannahme ist: Ich kann ALLES – oder zumindest kann ich alles lernen!

Ich erstellte eine Liste mit Ideen, aufgeteilt in zwei Spalten:
Rechts Dinge, die ich alleine, nur für mich machen konnte – links die Dinge, die mich mit Menschen in Kontakt brachten, Dinge, die bestenfalls meine sozialen Kontakte erweiterten.

In der Gruppe

  • Ehrenamtliche Tätigkeiten:
    Zeit mit den Bewohnern im Altenheim verbringen;
    Im Krankenhaus Kindern vorlesen;
    Im Tierheim helfen;
    Mich bei der Caritas engagieren;
    Schülerlotse werden;
    Flüchtlingshilfe;…
  • Etwas für die Umwelt tun:
    Müll sammeln;
    Einer Organisation wie Greenpeace beitreten, dort Aktionen mitmachen;
    Bei der Tafel helfen;
    Foodsharing…
  • Sich politisch engagieren
  • VHS-Kurse belegen
  • Im Fitnessstudio, einem Sportverein, einem Yogastudio, einer Tanzschule anmelden, …
  • Neue Leute, Gleichgesinnte kennenlernen, Ausgehen, …
  • Telefonieren, mich bei Menschen melden, die ich lange nicht gesehen/gehört habe, alte Kontakte wieder aufleben lassen, …
  • Briefe schreiben, Postkarten verschicken, kleine Päckchen packen, …
  • Kuchen backen und damit bei den Nachbarn klingeln, Teile auf der Straße verschenken, …

Für mich alleine

  • Lesen
  • Puzzeln
  • Singen, Musizieren, laut Musik hören und richtig abtanzen
  • Malen, Ausmalen, Zeichnen
  • Handarbeiten: Häkeln, Stricken, Nähen, Töpfern, Basteln, Kerzen gießen, Badezusatz herstellen, …
  • Schreiben, Dichten
  • Rätsel lösen, Spiele spielen, Lego bauen, sich in der Kinderabteilung eindecken, wieder Kind sein, …
  • Photographieren
  • Upcycling alter Klamotten, Haushaltswaren, …
  • Die Wohnung umräumen, streichen, dekorieren
  • Gärtnern
  • Spazieren gehen, in der Natur, in der Stadt, neue Wege, neue Ecken erkunden, neue tolle Plätze entdecken, …
  • Sich auf eine Bank oder in ein Café setzen, Menschen beobachten, mir Geschichten zu deren Leben ausdenken, …
  • Im Zoo Tiere beobachten
  • Kino, Theater, Kabarett, …
  • Schwimmen gehen, Sauna besuchen, eine Massage, eine Fußbehandlung, eine Maniküre, einen Friseurbesuch gönnen, …
  • Meinen Körper verwöhnen, ausgiebig baden, Nägel lackieren, Haare färben, …

Na, damit war die Liste doch schon ordentlich gefüllt!
Also der Reihe nach.

Zuerst links:
Ehrenamtliche Tätigkeiten sollen ja positive Auswirkungen auf die Psyche haben, laut wissenschaftlicher Studien
Das wäre einen Versuch wert.
Ob ich der Atmosphäre von Altenheimen oder Krankenhäusern gewachsen war? Ich war mir nicht sicher…
Tierheim? Wer mich kennt, weiß, Anna und Tiere, das verträgt sich nicht so sonderlich gut…
Caritas, Schülerlotse, Flüchtlingshilfe? Warum nicht! Zwar hatte ich keinerlei fachliche Qualifikation, aber ich war engagiert und „Fragen kostet ja nichts“…

Letzlich kam mir der Zufall zur Hilfe und so landete ich einige Tage später tatsächlich in einer Einrichtung der Caritas, wo ich einmal wöchentlich im Zuge des Familiennachzugs frisch in Deutschland angekommenen Frauen mit Händen und Füßen meine eigene Muttersprache näherzubringen versuchte. Eine riesige Herausforderung! Defintiv weit außerhalb meiner Komfortzone. Aber gerade deswegen unglaublich spannend, inspirierend, Horizont-erweiternd. Und ich spürte tatsächlich die positiven Effekte der ehrenmatlichen Arbeit am eigenen Leib: Ich kam in Kontakt mit Menschen, die Arbeit erschien mir sinnvoll und meist erntete ich außerdem den besten Lohn der Welt:
grenzenlose Dankbarkeit

Um mein ökologisches Gewissen zu beruhigen, wählte ich eine nicht ganz uneigennützige Art der Bekämpfung von Lebensmittelverschwendung. Seitdem füllt Foodsharing regelmäßig unseren Kühlschrank.

Während ich mich für die Politik nicht so richtig berufen fühlte, war Sport seit einiger Zeit ein wichtiger Bestandteil meines Lebens. Es durfte allerdings nicht ausarten! Der ungesunde Ehrgeiz lauerte da schon wieder im Hintergrund…
Ich suchte mir also ein Fitnessstudio mit einem umfassenden Kursangebot und verbringe seitdem einen Abend in der Woche mit entspannendem Yoga.

Tatsächlich stellte sich auch der Punkt "Gleichgesinnte kennenlernen" als viel leichter heraus als gedacht.
In Facebook gibt es für nahezu jede Stadt Gruppen von Menschen, die neu in der Gegend sind, gerne neue Menschen kennenlernen wollen oder einfach gerne ausgehen.
Außerdem entdeckte ich durch den Hinweis eines Freundes die kostenlose App Meetup. Dort findest Du, übersichtlich nach Kategorien sortiert, zahlreiche, meist kostenlose Veranstaltungen, für die Du Dich mit einem einzigen Klick anmelden kannst.

Dazu kam noch mein Engagement in verschiedenen Vereinen und Selbsthilfegruppen. Plötzlich musste ich aufpassen, dass neben all den Tätigkeiten noch genügend Zeit für mich alleine blieb!

Es ist praktisch unmöglich, einen Pinguin anzusehen und wütend zu sein.

— Joe Moore

In den Zoo habe ich es tatsächlich trotz dieser äußerst verlockenden Aussicht bis heute nicht geschafft! 😀

Unglaublich, was es alles für Möglichkeiten gab! Unglaublich, wie bunt und vielfältig mir das Leben plötzlich vorkam – jetzt, als ich begonnen hatte, mit offenen Augen durch die Welt zu gehen. Jetzt, als ich mich geöffnet hatte, geöffnet hatte für Neues

Auch die rechte Seite der Liste „arbeitete“ ich nach und nach ab, probierte mich durch, Punkt für Punkt.
Manchmal hatte ich spontan auf etwas Spezielles Lust, manchmal entdeckte ich etwas in einem Bastelladen, manchmal bot sich aufgrund der Jahreszeit etwas Bestimmtes an, manchmal holte ich auch meine Liste zur Inspiration hervor.
So dekorierte ich im Laufe der Zeit die Wohnung mit Selbstgebastelten, beglückte meine Liebsten mit herrlich falsch gehäckelten Tierchen, hängte an Ostern selbst bemalte Eier auf, füllte das ein oder andere Ausmalbuch für Erwachsene, bemalte die ein oder andere Leinwand, brachte mir Für Elise auf dem Keyboard bei, kaufte ein Puzzle, dem ich seither alle Lichtjahre mal ein weiteres Teil hinzufüge. Und ja, auch mit einem kleinen Legotechnik-Flugzeug verbrachte ich die ein oder andere nette Stunde, bevor es fertig zusammengebaut in irgendeiner Kiste verschwand.
Zusammen mit meinem Liebsten sammelte ich auf Messen, in Läden und bei Freunden Saatgut seltener Gemüsesorten, pflanzte, sähte, goß und freute mich einfach unglaublich, als die ersten kleinen Zitronengurken, Babyauberginen, Ufozucchinis und Okraschoten vorsichtig aus der Erde spitzten.

Dieser ganze Prozess war so unglaublich heilsam. Heilsam in vielerlei Hinsicht.
Ich lernte mit unperfekten Ergebnissen zu leben. Ich lernte Dinge für eine zeitlang halbfertig stehen zu lassen – oder auch niemals zu vollenden. Ich lernte wieder kindliche Freude an Farben und Mustern. Ich lernte wie unglaublich angenehm es sein kann, wenn die Hände beschäftigt sind und der Geist Pause hat. Und ich lernte, mich, meine Gefühle, meine Seele durch Kreativität auszudrücken. Ich erfuhr am eigenen Leib wie Kreativität ausdrücken konnte, wofür ich keine Worte hatte.

Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar.

— Paul Klee

Plötzlich begriff ich, wieso so viele Menschen in dieser Welt großartige Bilder malen, großartige Texte, großartige Musik schreiben. Plötzlich begriff ich, wie diese Menschen durch ihre Kreativität ihre eigene Seele sprechen lassen, sich selbst und ihre Gefühle ausdrücken, wie sie sich selbst und ihr Innerstes dadurch sichtbar machen.

Diese Erkenntnis ist für mich umso wertvoller, da sie mich mit einem wunderbaren Menschen verbindet, einem Menschen, mit dem mich der "Zufall" zusammengeführt hat, einem Menschen, der bereit war, sein Herzensprojekt mit mir zu teilen; einem Menschen, mit dem ich jetzt einige Monate wunderbar produktiv zusammengearbeitet habe, um dieses Herzensprojekt Wirklichkeit werden zu lassen.
Seit einigen Tagen ist es nun Wirklichkeit und ich würde mich unheimlich freuen, wenn Du es Dir einmal ansiehst, uns ein Feedback dazu gibst und vielleicht sogar in Zukunft selbst nutzt:

Der kreative Blog
Bauchgrammophon

Links in diesem Beitrag:
Zum Blogbeitrag: Die Leere füllen. Teil 1: Nie wieder Zeit tot schlagen
Link zur Studie über die positiven Effekte Ehrenamtlicher Arbeit, zur Website von Foodsharing, zur App Meetup und zum Klavierstück Für Elise;
Zum kreativen Blog der Werkstatt Lebenshunger e.V. Bauchgrammophon

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Comments

  • lu

    22. Oktober 2017 at 12:22
    Reply

    Hallo Anna, ich freue mich immer wieder über deinen Blog. Ich finde Singen gehört in die andere Spalte deiner Auflistung. Singen im […] Read MoreHallo Anna, ich freue mich immer wieder über deinen Blog. Ich finde Singen gehört in die andere Spalte deiner Auflistung. Singen im Chor macht jede Menge Spaß. Read Less

    • Anna
      to lu

      22. Oktober 2017 at 14:47
      Reply

      Oh, liebe Lu, da hast Du natürlich Recht! Singen gehört also eigentlich in beide Spalten! Du kannst Spaß haben unter der Dusche zu einem tollen […] Read MoreOh, liebe Lu, da hast Du natürlich Recht! Singen gehört also eigentlich in beide Spalten! Du kannst Spaß haben unter der Dusche zu einem tollen Lied laut und falsch zu singen - oder Dich mit Gleichgesinnten in einem Chor treffen! :-D Read Less

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